Wandern zu den Kapellen rund um den Monte Falerio

Der Monte Falerio schaut uns jeden Morgen beim Frühstück zu. Es handelt sich dabei um einen Felsenkegel, der sich auf 650 Meter aus dem Meer hebt. Für den Wanderer ist er nicht ohne Weiteres zu erklimmen. Trotzdem verirren sich von Zeit zu Zeit Kletterer auf den Felskegel, von dem die Aussicht sicher phänomenal ist. Um das Massiv herum und auch entlang der größeren Felsen oberhalb der Amalfiküste ziehen sich zahlreiche Wanderwege, deren Ausschilderung allerdings eine gewisse Kreativität in der Auslegung erfordert.
In der größten Mittagshitze machen wir uns auf den Weg. Der Wanderweg, der hinter dem Haus entlangführt und die Nummer 303a trägt, schlängelt sich zunächst an noch abgelegeneren Gehöften, als dem Unsrigen vorbei.

Er führt uns an eine Quelle, die aus dem Berg rinnt und eine Art Vertikalgarten speist. Üppig klettern hier die verschiedensten, mir namentlich nicht geläufigen Grünpflanzen die Felswand hinauf, glänzen feucht in der verhalten in die Wand scheinenden Sonne. Das Wasser ist kalt und kommt im richtigen Moment, um den beginnenden Durst zu löschen. Im Dickicht steht eine kleine Tafel mit einem Bildnis von Maria.
Ein Schrein mit einer Marienfigur versteckt sich in einer Nische im Felsgestein. Weitere kleine Heiligenpüppchen werden vom herabtropfenden Wasser benetzt. Ein heilige Quelle, vielleicht? Ein Jungbrunnen, nach dessen Nutzung man ewig jung bleibt? Wie funktioniert so etwas, wenn man bereits über fünfzig ist? Vermutlich bleibt man dann auch über fünfzig.
Kurz hinter der Quelle beginnt ein Anstieg hinauf in den Berg. Zunächst sind es Stufen, auf denen uns ein Wanderer entgegenkommt, der Einzige, den wir für eine lange Zeit sehen. Die Stufen enden an einem steilen Felspfad, der uns weiter nach oben bringt. Das Dickicht rechts und links wird dichter. Eine Machete wäre gut, denn die wilden Brombeeren greifen uns an. Immer wieder öffnen sich kleine Fenster im Grün, durch die der Blick hinab ins Tal, hinüber auf Vietri sul Mare, die Hafenstadt Salerno und weit über den Golf bis hinab nach Süditalien schweift.

An einer Kreuzung müssen wir uns entscheiden. Links schickt uns ein Weg zu einer Kapelle, der Capella Vecchia, rechts zu einer anderen, der Capella Nuova. Beide Wege führen weiter hinauf an die Flanke des Monte Falerio. Wir folgen dem linken Weg. Nach wenigen Schritten merken wir, dass wir uns nicht mehr auf dem offiziellen Wanderweg befinden, sondern auf einem leicht ausgetretenen Pfad, an dem nur hin und wieder weiß-rote Flatterbandstückchen, die im Baum hängen, den Weg markieren. Nach einem steilen Wiesenstück lockt uns ein schattiger Weg in den Wald, dann passieren wir wieder Felsstücke, auf die man sich hinauf hangeln muss. Jede dieser Mühen wird mit noch spektakuläreren Aussichten belohnt. Die Vegetation wird allmählich dürftiger. Es handelt sich nun um ein Art Macchia, ein Buschland wie es auch auf Korsika zu finden ist. Nach etlichen Metern und einer weiteren Klettereinlage auf Fels gelangen wir auf eine Felsnase, die mit Brandspuren einer kürzlich erfolgten Grillpause dekoriert ist.

Wie kommen die mit dem ganzen Plunder hier hoch, frage ich mich und kicke eine leere Zigarettenschachtel beiseite. Der Weg führt von der Aussicht weg. Farn und Dickicht machen den Weg kaum noch als solchen erkennbar. Inzwischen sind wir mit der Kuppe des Monte Falerio auf einer Höhe. Schmetterlinge umflattern uns.Eine Hornisse brummt eilig an uns vorbei. Ein Gecko genießt die Sonne auf einem Stein.
Wenige Schritte später erblicken wir die alte Kapelle.. Sie ragt auf einer Aussichtsplattform in die Landschaft, die einen Blick offeriert, von dem wir uns so schnell nicht wieder lösen können. Das ist mal eine Aussicht, die sich nicht nur gewaschen hat, sondern geduscht. Ach was, ein ausgiebiges Bad hat sie genossen. Links ist der Hafen von Salerno zu sehen. Dahinter weiß leuchtende Felder, die wirken, als wären sie mit Folie abgedeckt. Weiter schweift der Blick bis zur letzten Spitze des Golfes von Salerno, tief im Süden des Landes. Direkt vor uns können wir über den Kamm unseres Hausberges blicken, der jetzt bereits niedriger ist, als unser Standort. Tief unten im steil abfallenden Tal sehen wir ein kleines Fischerdörfchen, vor dessen Hafen allerhand weiße Boote verschiedenster Größe ankern. Weiter draußen bewegen sich die ganz großen Pötte auf dem blauen Wasser. Vor dem Hafen von Salerno lässt sich ein Frachter von den Lotsen ins Hafengelände ziehen. Golden schimmert eine Schleppe aus Treibstoff und Öl auf der Wasseroberfläche, verteilt sich und wird schließlich auch an die Badestrände von Vietri sul Mare anlanden, an denen sich nicht weit vom Hafen zahllose zahlende Badegäste lautstark erholen. Gelegentliche Windstöße tragen das Geräusch bis hier hinauf. Ein kleiner Privatjet schießt dagegen lautlos hinter dem Bergmassiv über das Meer und verschwindet irgendwo im Hinterland von Salerno.

Jetzt kommen ein paar weitere Wanderer auf dem Weg hinter der Kapelle entlang. Wir beschließen ebenfalls, weiter zu wandern. Es gibt kein Hinweisschild, wo entlang es zur Capella Nuova geht. Lediglich die rot weiße Markierung am Wegesrand weist darauf hin, dass es sich hier um einen Wanderweg handelt. Der teilt sich hier allerdings und wir laufen zunächst nach links, was mir nicht ganz richtig erscheint. Zwei gut ausgestattet Bergwanderer begegnen uns. Einer müht sich mit zwei Wanderstöcken eine Stufe hinauf. “Cappella Nuova” frage ich und blicke in Wegrichtung. “Si” stöhnt der eine. Wir marschieren also weiter. Nach einer Weile frage ich mich, ob der Wanderer meine Frage nicht vielleicht so verstanden hat, als fragte ich ihn, wohin er will. Vielleicht wollten uns die beiden Knaben aber auch verarschen. Wäre ja nicht ungewöhnlich. Ich beschließe, die Wandernavigationsapp meines Taschentelefons zu Rate zu ziehen, der ich nicht so recht über den Weg traue. Sie verrät mir, dass wir uns auf dem richtigen Weg befinden. Nur in falscher Richtung. Auf unserer Karte ist dieser Weg dünn gestrichelt dargestellt. Also drehen wir um, erreichen nach einer halben Stunde zügigen Schrittes die Alte Kapelle und folgen dann einem dicken, steil abwärts führenden Schotterweg, der uns an einem Haus vorbei führt und an einer illegal aussehende Lagerstätte für Sondermüll. Reihenweise stehen hier blaue Plastetonnen im Wald. Ein altes, aber fahrbereites Moped lehnt an einem Baum.

Weiter abwärts des Weges erkenne ich ein kleines Gebäude, die Cappela Nuova und höre das Brummeln eines Mopeds. Direkt an der Cappela führt eine unbefestigte Straße entlang. Dieser Wallfahrtsort ist also auch mit dem Taxi erreichbar. Die vom Regen ausgewaschene kleine Straße wirkt nicht so, als wäre sie gänzlich schadensfrei befahrbar. Trotzdem sind einige Spuren von motorisierten Fahrzeugen zu erkennen. Auf den Weg hat man zur Befestigung Tonscherben und zerbrochene Fliesen ausgestreut. Es ist ein ziemlich rutschiges Gelände.
Die kleine Marienkapelle lädt eigentlich ein zu einem kurzen erholsamen Päuschen. Doch neben der Kapelle, in einer kleinen Nische unter einem Baum, sitzen ermattet die beiden Männer, die uns in die falsche Richtung geschickt haben.
»Ah. Capella Nuova«, sage ich laut und mit einer Betonung, die unterstreichen will, dass man nicht wirklich überrascht ist. Dann nicke ich den beiden etwas verlegen aus ihrer verschwitzten Wäsche schauenden Wanderern lächelnd zu und wir laufen, so locker wir können, weiter bergab. »Eine Pause wäre jetzt auch für uns sehr schön gewesen, ihr Pappnasen.«

Plötzlich Glockengeläut, nahe und leise. Eher Gebimmel. Ich höre Gemecker. Im abschüssigen Gelände knabbert sich eine kleine Ziegenherde durchs Gebüsch. Aufgeregt klingeln die kleinen Glöckchen, während die Ziegen versuchen die saftigeren Blätter an den biegsamen Sträuchern zu erreichen und dabei auf den Hinterbeinen stehen. Hinter der nächsten Wegbiegung ist von den Tieren nichts mehr zu hören. Allerdings steht rechter Hand nun das Gehöft, auf dem die Ziegen leben. Hunde bellen mit großer Ernsthaftigkeit. Ein paar rostige Traktoren stehen herum, Reifen liegen am Straßenrand, Schrott und Mülltüten ebenfalls. Die einfachste Art mit seinem Müll zurechtzukommen, ist ihn soweit auszulagern, dass es nicht mehr das eigene Problem, sondern das Problem anderer Leute ist. Müll am Straßenrand? Ich wohne hier nicht. Müll in unwegsamen Bergmassiven? Ich bin heute zum ersten Mal hier. Müll in den Weltmeeren? Also ich hab ihn da nicht hineingetan.
Wir kommen in ein kleines Dorf von dem aus wir das Tal und die Stadt sehen können, die an der Verbindungsstraße zwischen Neapel und Salerno liegt. Hinter dem Dorf gehen Stufen in nicht besonders schrittkonformer Höhe talwärts. Nicht gerade eine Showtreppe. Eine Ruine steht am Wegesrand. Ein großer Bau, in dem sich keine Türen mehr befinden, keine Fenster. Taubendreck liegt auf dem Fußboden, die Wände der Räume sind mit Graffitis geschmückt. Aus dem Fenster lockt ein traumhafter Blick aufs Mittelmeer. Wer immer diesen Bau verlassen hat, er muss ernsthafte Gründe gehabt haben. Das Gemäuer ist noch perfekt. Das Bad noch gefliest und auch die Wasserleitungen führen noch bruchlos die Wand hoch. Stufen locken ins nächste Stockwerk unter dem Dach, das auf den ersten Blick dicht zu sein scheint. Vor dem Haus liegt, einige Meter tiefer eine weitere Terrasse. Ein großer Schuppen oder eine kleine Werkstatt befindet sich in der Nähe. Alles ist von Unkraut überwuchert, das zur Zeit bunt blüht. Eine Menge Arbeit wäre nötig, dieses kleine Schmuckstück aus dem Dornröschenschlaf zu erwecken. Vermutlich gibt es auch keine vernünftige Anbindung zur Straße. Es ist eine interessante Ruine in einem an interessanten Ruinen nicht armen Land. Ich will noch auf den Balkon gehen, aber der ist bereits besetzt. Eine große Ziege mit langen Hörners steht dort und genießt die Aussicht. Sie dreht sich zu mir um und blickt mich fragend an: “Sie wünschen?”
Wenige Meter später, erneut eine Quelle. Wieder eine Marienquelle. Kalt spritzt das Wasser aus dem Hahn und erfrischt. Und dann befinden wir uns oberhalb unseres Ortes Albori. Über dem Weg flattern zwei Schwalbenschwänze um einander herum, umturteln sich im Liebesspiel der Schmetterlinge. Allmählich steigen sie, sich weiter umkreisend höher und verschwinden an einer Hecke, die an einer Mauer lehnt, mehrere Meter über dem Weg, zwei bunte Elfen unter einem azurblauen Himmel.
Stufen führen hinab ins Dorf. Aus offenen Fenstern hört man italienische Gespräche, laut und schnell wie Streitgespräche, die sie vermutlich nicht sind. Dann gebrochenes Englisch und geknödeltes Amerikanisch aus einem benachbarten Fenster. Ein junges Paar, dass ich bereits einen Tag zuvor sich mit drei Rollkoffern den Berg hinaufquälen sah, haben sich hier für ein Wochenende ihrer Europarundreise einquartiert.

In einem kurzen Tunnel unter einem Haus hat man an einer Wand die Geburtsgeschichte Christi aufgebaut. Wie eine Spielzeuglandschaft mit Häusern, Menschen, Eseln, Bäumen. Zement, Farbe und ein paar Figuren, die die Wand plastisch schmücken. Ein Krippenspiel, das zwölf Monate an der frischen Luft bleiben kann.
Schließlich erreichen wir wieder den Parkplatz, wo unser Auto steht und das Brünnlein des Fausto Coppi Fanclubs Wasser spendet. Die Wanderung mit seinen Steigungen war durchaus anspruchsvoll, wenn auch mit knapp fünfzehn Kilometern nicht sehr weit. Trotzdem sind wir verschwitzt und etwas abgekämpft.
Ein bisschen Ruhe und ein paar erfrischende Minuten unter der Außendusche, die als kleines Zubehör vor unserem Ferienhaus auf uns wartet, sind jetzt genau das, was wirklich zählt im Leben.