Das alte Piratennest
Wer in den ganz späten Sechzigern und frühen Siebzigern aufgewachsen ist und hin und wieder von einem Fernseher erzogen wurde, wird sich vielleicht an die französische Fernsehserie “Die Männer von St.Malo” erinnern. Da ging es vorrangig um zwei Freunde, die zur See fuhren und mit einem Kaperbrief der französischen Regierung ausgestattet, die Blockade der englischen Marine durchbrechen, immer wieder unter zum Teil hanebüchener dramaturgischer Sprungfederakrobatik Schiffe aufbringen und als Helden in den Hafen der Stadt zurückkehren. Die Geschichten der beiden Freibeuter basieren auf den Erlebnissen des französischen Seefahrers Robert Surcouf, der um 1800 in St. Malo lebte und von Napoleon mit eben jenem Kaperbrief auf große Fahrt ging. Dabei gelang es ihm tatsächlich der englischen Kriegsmarine im Indischen Ozean ordentlich die Vorherrschaft schwer zu machen. Dem erfolgreichen Seekrieger hat St.Malo auf der Stadtmauer ein Denkmal gewidmet, das ihn seewärts zeigend im stets kräftig wehenden Wind stehen lässt.
St.Malo ist ein heute eine große Hafenstadt, deren eigentliche Stadtbezirke so attraktiv sind, wie in den meisten Städten. Wohnviertel reihen sich an Geschäftsviertel, Industrie und Kommerz wechseln sich ab, wenn man von den Außenbezirken Richtung Cité fährt. Erst in der Nähe des Hafens wird es etwas interessanter und von einem der großen Parkplätze aus, kann man schon deutlich das alte Piratennest in seiner dicken Stadtmauer erkennen.
St.Malo gehörte zu den Städten, die im Zweiten Weltkrieg sehr gelitten hat. Der deutsche Kommandant der Festung weigerte sich nach der Landung der Alliierten, zu kapitulieren. Die Stadt wurde im Verlauf der Belagerung und folgenden Gefechte stark zerstört. In den folgenden Jahren entschied man sich zu einer weitgehend originalgetreuen Wiederherstellung der Altstadt. Heute kann man sich in den Gemäuern gut das Leben im frühen 19.Jahrhundert vorstellen, sofern man sich die Ramschläden wegdenkt, die auch hier an vielen Ecken auf den Touristen lauern.
Vorbei am Denkmal von Jaques Cartier, der als Entdecker Kanadas und damit als Urvater von Quebec gilt und Boule spielenden alten Männer, durchqueren wir das Port de Dinan, eines von mehreren Eingangstoren in das Innere der Stadtmauern. Die Straße führt etwas aufwärts und ist gut gefüllt mit Besuchern und Einheimischen, aber lange nicht so überfüllt, wie die Gassen auf dem Mont St.Michel. Die Häuser sind aus dicken Granitsteinen gemauert und machen einen wuchtigen und extrem stabilen Eindruck. Die Sonne hat es schwer, die Straßen und Gassen zu erhitzen. Eine angenehme Kühle geht von den Fassaden aus. Ein schwer tätowierter Mann mit langen fettigen Haaren und nur halben Gebiss kommt an uns vorbeigehumpelt. Er stützt sich auf Krankenkassenkrücken. Vermutlich ein Pirat nach einem Betriebsunfall, der jetzt seinen Rehabilitationsspaziergang genießt.
Wir biegen in eine Passage ein und sehen in einem Schaufenster die wohl größte Kuchentheke, die wir uns vorstellen können. Dabei geht es nicht um die Menge der verschiedenen Spezialitäten, sondern tatsächlich um die Größe der einzelnen Torten. Manche Torten sind bis zu zwanzig, eine sogar knapp dreißig Zentimeter hoch. Dabei handelt es sich um Sahnetorten aller Art. Mir fällt spontan die Schwarzwälder Kirschtorte auf, hier als Foret Noir beschrieben. Da mein letztes Essen das Frühstück vor einigen Stunden war, beschließen wir, hier einen kleinen Mundvoll zu uns zu nehmen und bestellen jeder ein Stück Foret Noir. Es wird das größte Stück Kuchen, dass ich je gesehen und gegessen habe. Serviert wird es auf einem Teller, der Zuhause eher als Bratenplatte genutzt wird. In einer Kirschsoße schwimmen lebendige Kirschen, mit denen ein Kompott gut ausgestattet wäre. Die Kellnerin sagt “Bon Courage” und freut sich. Zwei Frauen, die ich spontan nach Laos oder Kambodscha verorten würde, reißen ihre Mandelaugen erschrocken auf, als sie uns vor dem Cholesterinattentat sehen und stoßen beim Weiterlaufen beinahe mit einer Horde Schüler zusammen, die auf Klassenfahrt ist und unser Teller mit einem satten “Boa” honorieren. Auf der anderen Seite befindet sich ein Fischrestaurant, vor dem ein Dreiergespann aus Gästen ebenfalls entgeistert auf unsere Teller guckt und mit dem Kopf schüttelt. Fünf Minuten später erscheint deren Nachmittagsration: ein dreiteiliger Turm aus mit Meersesfrüchten gefüllten Platten, deren unterste den Umfang eines Buslenkrades, die nächste, den einer Radkappe und die oberste immerhin noch den einer Frisbeescheibe besitzt. Die Platten quellen über von Austern, Muscheln und allerhand Meeresfrüchten. Wir schauen entgeistert hinüber und schütteln mit dem Kopf. Erstaunlicherweise sind wir nach dem Kuchen satt, aber weder träge noch überfüllt. Auch die vorbei defilierende Taube hat nichts abbekommen und watschelt enttäuscht weiter, als wir uns erheben.
St.Malo wimmelt vor Gaststätten, die einen ganz guten Eindruck machen, aber wir haben für den Moment genug. Wir biegen aus einer Seitenasse auf eine Straße und ich stehe unvermittelt vor einem Cafétisch, an dem ein Mann sitzt, der sich gerade sein Portemonnaie in die Jackentasche steckt. Ich bleibe wie bei einer Vollbremsung stehen und erlebe einen dieser Momente, die zu schön sind, um sie sich auszudenken. Mit leicht dümmlichen Grinsen bemerke ich nicht ganz leise: “Und hier sitzt Paul Theroux”.
Paul Theroux ist der mit Abstand genialste Reiseautor der Gegenwart. Seit Jahren verfolge ich seine Reisetagebücher, seine Beschreibungen exotischer Fluchten und Ausflüge in die Welt des Alltags seiner Nachbarn. Bücher, wie “Der alte Patagonienexpress” in dem er die Anden per Zug bereist, seine Reise einmal rund ums gesamte Mittelmeer und seine Faltboottouren in Ozeanien, sind Lesestoffe, die auch im Laufe der Jahre nicht langweilig werden. Zudem ist er ein brillanter Romancier, der mit “Moskito Coast” und “Hotel Honolulu” hervorragende Darstellungen von menschlichen Verhaltensweisen in Grenzsituationen schilderte. Sein Stil besitzt einen Witz, der hintergründig ist und nie ins Alberne umkippt. Manchmal ist er grantelig und schroff, aber stets sehr detailliert in der Beobachtung. Kurz, als Autor zählt er zu meinen absoluten Helden, weshalb ich mit der aktuellen Situation kurz überfordert bin. Ich starre ihn an. Die neben dem Autor sitzende Dame, die ich mal spontan als seine Frau bezeichnen möchte, funkelt mich mit dem erschrocken Abwehrblick eines “Oh, nein. Bitte jetzt kein Fangespräch” an. Mr. Theroux indes schaut mich genauso an, wie ich es von Fotos auf den Klappentexten seiner Bücher her kenne, leicht genervt. Dann tut er das, was er auf Fotos auch am besten kann: er schaut stoisch auf den Betrachter und lächelt … nicht. Ich weiß, was ich jemanden schuldig bin, der mitten in St.Malo sitzt und eigentlich nur einen Kaffee trinken will: Ruhe. Er ist schließlich kein Popstar und ich kein kreischender Teenie. Ich nicke ihm leicht zu und verschwinde mit einem seligen Lächeln, als wäre ich gerade gesegnet worden.
Nachdem ich mich ein bisschen beruhigt habe, klettern wir die steilen Stufen der Stadtmauer hinauf und beginnen die Cité zu umrunden. Die Altstadt wird von drei Seiten von Wasser eingeschlossen. Zumindest bei Flut. Vorgelagert ist eine alte Festung, die man bei Ebbe zu Fuß aufsuchen kann.
Interessant ist ein Gezeitenschwimmbad unterhalb der Mauer. Es handelt sich dabei um ein gleichermaßen einfaches, wie schlaues Konzept. Ein klassisches Badebecken wurde am Strand ausgehoben und befestigt. Eine Betonmauer umschließt es. Mittig der äußeren Befestigung steht ein Sprungturm, der eine Drei- und eine Fünfmeterplattform besitzt, von der auch fleißig gehoppst und geschubbst wird. Bei Flut wird das Becken neu mit Meerwasser gefüllt und verschwindet beinahe vollständig in der steigenden See. Nur der Sprungturm schaut dann noch aus dem Wasser.
Hier in der Bucht von St.Malo kann man eine Tidenhub von fast zwölf Metern messen. Unterhalb der Stadtmauer sitzen Sonnenhungrige und Badewasserverweigerer auf dem trockenen Strand.
Die Stadtmauer wäre nicht authentisch, würden nicht ein paar Kanonen seewärts drohen. Auf der anderen Seite der Bucht, in Reichweite der Kanonen ankert ein Kreuzfahrtschiff. Hinter einer Hecke pausiert ein Piratendarsteller und raucht. Sein Job ist es vorbeikichernde Teenager zu erschrecken.
Vor dem Grand Port tobt sich ein Rummelplatz aus. Im daneben befindlichen Hafenbecken schaukelt ein historischer Dreimaster. Selbst auf der Stadtmauer weht einem der Duft nach Crepes und Galettes an.
Nach einer kompletten Umrundung der Stadtmauer und einem abschließenden Besuch an der Statue von Robert Surcouf begeben wir uns wieder nach unten, durchqueren noch einmal die Altstadt, deren Publikum sich zum Abend hin allmählich verändert. Die Touristengruppen versammeln sich und ziehen Richtung Bus. Die Abendbummler spazieren langsam zu den Toren hinein und grüßen in die Restaurants hinein. Bekannte treffen sich auf der Straße mit lautem Hallo und Bussi rechts und Bussi links. Ramschläden schließen, Bars öffnen. Mancher sitzt ermattet vom Tag im Ladeneingang. Wir ziehen uns langsam zurück.
Unser Häuschen mit Blick aufs Meer ist noch 90 Minuten Autofahrt entfernt. Leider hält uns unterwegs ein Stau vor St.Brieuc auf und verlängert die Aussicht auf unsere schöne Aussicht, die wir dann erst in der herein ziehend Dunkelheit erreichen.
Versöhnt werden wir durch ein überraschendes Leuchten im nahen Feld. Wie kleine LED-Lämpchen glimmen Glühwürmchen im Dämmerlicht des späten Abends.