St. Martin de Castillon liegt etwa 450 Meter hoch. Es ist ein kleines Dorf, das sich an eine Bergflanke schmiegt, direkt gegenüber des Grand Luberon, auf der anderen Seite des Flüsschens Calavon. Alle Häuser sind steinalt und sehen auch so aus. Das liegt an ihrer Bauweise. Es sind Feldsteinhäuser. Selbst neuere Bauten, kleine Anwesen werden kompakt gebaut, manche aus Ziegeln andere aus Beton und am Ende kommt als Verputz eine dicke Schicht Feldsteine aussen ran. So kann man selbst einen Neubau attraktiv machen in einer Gegend, die zu allererst mit dem Charme des Rustikalen angibt.
Da St. Martin ein Bergdorf ist, kann man kaum mit flachen Gehwegen und angenehm befahrbaren Straßen rechnen. Vier kleine Parkplätze besitzt das Dorf, eine etwas breitere befahrbare Straße, die unterhalb des alten Dorfkerns am Ort vorbeizieht und eine weitere die hinauf und dann ins Nachbardorf Caseneuve führt. Die anderen Sträßchen kann man nur mit dem Moped, dem Fahrrad und in den günstigstiger Fällen zu Fuß durchqueren. Einerseits sind sie zu schmal und zu gewunden für den motorisierten Verkehr, andererseits bestehen sie aus steilen, improvisierten Steinstufen. Man kommt über Treppen überall hin ins Dorf, muss aber meistens den Einkauf vom Auto selbst schleppen. Überall haben die Einwohner den Steinen und Stufen kleine Gärtchen abgetrotzt. Blumen und Grünpflanzen begleiten die Wanderung durchs Dorf und man kommt sich vor , wie in einem sehr begrenzten Dschungel.
Die meisten Häuser bestehen aus einer Eingangstür, hinter der es steil nach oben geht. Ein Haus, vier Aufgänge neben unserem, nur unterhalb unserer Treppe, war jahrelang Baustelle. Ein Mann, dem auf dem Kopf das Haupthaar ausging, aber an den Seiten noch langes welliges schwarzes Haar besaß, baute dort seinen Aufgang aus. Ich sah ihn immer am Wochenende in Bauarbeiterwäsche ankommen. Er rückte mit Material an und wuselte drauf los. In Frankreich ist die Mittagspause keineswegs heilig. Auch der Sonn- und der Feiertag kann, schon aus terminlichen Gründen auch mal mit einem lauten Werkzeug begangen werden. Der junge Mann jedenfalls war immer fleißig. Innerhalb der letzten zehn Jahre, in denen wir regelmäßig ins Dorf kamen, ist er nicht nur etwas älter geworden, das Seitenhaar ist noch immer lang, dafür bereits grau durchzogen, sondern auch mit dem Ausbau fertig geworden. Auf seiner Dachterrasse, die ich von unserer aus sehen kann, stehen Grünpflanzen. Er selbst wandert am Wochenende mit seinem großen, wuscheligen, neugierigen Hund durchs Dorf. So treffe ich ihn mal auf der Straße, mal spaziert er, mit weißem Leinensakko und hellem Hut an unserer Frühstücksterrasse vorbei, grüßt freundlich. Der Hund guckt kurz auf einmal Streicheln am Tisch vorbei. Bonjour, Messieurdames, bonne journee und vielleicht noch ein Ca Va auf dem Weg. Er scheint noch immer nur am Wochenende in St. Martin zu sein. Heute sieht er aber entspannter aus, als zur Zeit der Bauarbeiten und genießt seinen Landsitz.
Es gibt einen kleinen Laden im Dorf. Vival heißt die überall in Frankreich zu findenden Tante-Emma-Laden-Version der Casino-Gruppe. Dort gibt es frische Brötchen und Baguette, frische Milch, frisches Obst, frischen Wein und frische Briefmarken. Betrieben wird er von einem freundlichen Pärchen, die bereits beide um die Fünfzig sind. Sie, klein und gern mit dem Telefon an der Backe während des Kassierens unterwegs. Er, der Typ bärbeissiger Motorradliebhaber. Keine Haare, muskullös. Ein langes Zickenbärtchen baumelt ihm gepflegt vom Kinn. Im Laden, immer freundlich, zuvorkommend und auch mit einem des Französischen zwar ein wenig mächtigen, aber nicht gerade flüssig parlierenden Kunden, ein Witzchen machend.
Ein holländische Paar, das vor uns den Laden betritt, kauft Käse. Ziegenkäse, wie man an Hand der französischen Aufschrift erkennen könnte, spräche man die Sprache. Sie wissen aber leider nicht, um was es sich dabei handelt. Sie sprechen kein Wort Französisch. Der Verkäufer versucht ihnen überzeugend klar zu machen, dass es sich um Ziegenkäse handelt. Er hebt die Hände an die Ohren und sticht auf beiden Seiten jeweils nur mit den Zeigefinger in die Luft. “Devil” fragt die Frau. Der Käufer verdreht die Augen und macht nun auch noch mit heller Stimme “Meeeehh!” Das verstehen dann auch die Holländer.
Häufig sieht man den Verkäufer aber in der kleinen Bar sitzen, der Bar de la Fontaine. An der einzigen kleinen Kreuzung angesiedelt, ist sie auch die einzige Bar im Ort. Vor Jahren gab es im Hotel, fünfzig Meter weiter die Straße runter, eine Pizzeria. Die machte, ja was wohl, Pizza. Das aber gut. Außerdem veranstaltete sie jeden Mittwochabend ein Fischessen, das sehr beliebt war. Ohne Reservierung kam man nicht in den Genuss diese kulinarischen Wochenhighlights. Man musste sich noch vor Ort die zwei oder drei Fische, die man essen wollte aussuchen. Entweder lagen diese auf Eis im Schatten der Hausbar oder sie schwammen noch in maßvollen Aquarien. Serviert wurden sie dann auf einer riesigen Korkplatte, wo sie auf einem Bett aus Kräutern und Bratkartoffeln schlummerten. Nicht ganz billig der Spaß, aber jedes Mal ein kulinarisches Erlebnis, das wir uns, so oft wir den Ort besuchten und solange die Pizzeria existierte, nicht entgehen ließen. Mittlerweile hat der Besitzer gewechselt und das einzige Restaurant des Ortes ist somit verschwunden. Heute befindet sich dort nur noch ein Bed & Breakfast.
In der Bar de la Fontaine gibt es wohl auch manchmal was zu Essen, aber der kleine Hobbit, der den Laden schmeißt, wird nicht sehr oft darum gebeten, sich in die Küche zu stellen, was vermutlichen einen Grund hat. Hier lernen wir gern vom Verhalten der Einheimischen. Angeblich soll eine gute Köchin im Hinterstübchen auf Aufträge warten. Aber in der Zeit unseres Aufenthalts wurde sie nicht geweckt.
Was der Schankhobbit richtig gut kann, ist Bier ausschänken und Wein. Wenn man von einer anstrengenden Wanderung zurückkehrt oder von einer schweißtreibenden Radtour über die Höhenzüge, dann ist das Ankommen, an der Bar de la Fontaine, mit seinem kleinen sprudelnden Brunnen auf der Terrasse ein Moment purer Lebensrettung. Die letzte Steigung überwindend, hechelt man sich zur Bar, stellt das Rad ab oder lockert die Wanderschuhe und genießt erstmal ein großes Pression, ein gezapftes Bier. Wunderbar.
Das Dorf verfügt über eine Bibliothek, die nur einmal die Woche für drei Stunden geöffnet ist. Sie befindet sich in einem alten Gemäuer, das den Eindruck erweckt, als habe dort mal eine kleine Burg oder ein Minikloster gestanden. Weiter unterhalb steht die Kirche, mit dem einfachen Glockenturm, der eine Besonderheit der Region besonders deutlich kundtut. Jede Stunde läutet die Glocke die Uhrzeit mit so vielen Schlägen, wie es die Zeit erlaubt. Also um 1:00 Uhr ein Schlag, um 2:00 Uhr zwei Schläge und so weiter. Nichts Besonderes eigentlich. Doch wenn der Stundenschlag vorüber ist, wiederholt das Schlagwerk die Prozedur noch einmal zwei Minuten später. Für alle, die das irgendwie verpasst oder sich verquatscht haben und nun aber wirklich los müssen. Das bedeutet, das mittags und eben auch um Mitternacht, die Kirchenglocken vierundzwanzig Mal dongeln. Das ist nicht nur für uns, die wir dreißig Meter weiter unser Haupt zu Bette lagern anstrengend, sondern auch für die im Kirchturm hausenden Tauben eine ziemliche Zumutung.