In Vikøry brennt nicht gerade die Luft. Zwar ist Vikøry das Verwaltungszentrum der Kommune Vik I Sogn auf der südlichen Seite des zentralen Sognefjords und mit seinen 1100 Einwohner so etwas wie die Hauptstadt der Region, aber von einem quirligen regionalen Hotspot ist der Ort soweit entfernt, wie Neustadt an der Dosse. Ein kleines Einkaufszentrum liegt zentral neben dem einzigen Hotel des Ortes. Darin befindet sich ein Spar, ein Fachverkaufsbereich für Alkohol, den ich aber nur im geschlossenen Zustand gesehen habe, eine Apotheke, sowie ein kleiner Laden für Strick- und Handwerkszeug, nebst Verkaufsregal für Schreibwaren, Bücher und Magazine. Eine freundliche alte Dame bedient darin mit rudimentären Englischkenntnissen. Postkarten verkauft sie, für Briefmarken schickt sie mich jedoch in die Post, die sich im Kellergeschoß des anderen zweiten kleinen Einkaufspunktes im Ort, gleich auf der anderen Straßenseite befindet. Die Post und der ebenfalls im Keller des Coopmarktes befindliche Eisenwaren-, Angel- und Sportbedarfladen hat aber nur Wochentags bis ca. 16:00 Uhr auf.
In Vikøry hält ein Schnellboot, das einen jeden Morgen um kurz nach acht nach Bergen schippert. Dreieinhalb Stunden benötigt sie für die knapp 180 km über den Fjord und durch die vorgelagerten Inseln. Außerdem kann man Tanken, sollte am Wochenende aber nicht vor 10:00 Uhr an der Zapfsäule stehen. Zwei Gaststätten sind mir aufgefallen. Die am Fähranleger ist aber nach 17:00 Uhr zu. Schule, drei Kirchen, eine Käsefabrik. Und ein für Touristen attraktiver Laden für handwerklichen Kram aus der Region, den ich auch nie offen gesehen habe. In der Käsefabrik kann man sich angucken, wie der örtliche Käse gemacht wird. Es ist ein sehr trockener Käse mit höchstens ein Prozent Fett, der die Konsistenz eines Sandkuchen besitzt und schon beim Angucken bröselt. Dagegen ist Pumpernickel konzentrierte Brühe.
Vikøry liegt hinter den Bergen und ist besser mit dem Boot, als mit dem Auto zu erreichen.
Trotzdem oder gerade wegen seiner isolierten Lage hat der Ort den Charme einer verschlafenen, aber grundsätzlich nicht unfreundlichen alten Dame. Einer sehr alten Dame.
Entstanden ist der Ort aus der Not. Einst war es eine Tagelöhnersiedlung für Fischer und Waldarbeiter. Doch viel früher noch siedelten hier am Ende der Welt herummissionierende Mönche.

Weiter oben im Ort, da wo Vikøry langsam in die Hanglage der Fjordberge steigt, steht eine alte Stabkirche aus dem Jahr 1140. Der Ortsteil, in dem sie sich befindet heißt Hopperstad, ein kleiner grüner Flecken mit ein paar Höfen in der Nähe der alten Reichstraße, die heute als Riksvei 13 über das Vikafjell nach Vik führt. Auf dem kleinen Friedhof rund um die alte Kirche ist der Name Hopperstad am häufigsten vertreten. Zwei weitere Familiennamen tauchen am Rande auf. Der Ortsteil scheint kaum durchsiedelt zu sein, sondern seit Jahrhunderten von einer Familie bewohnt zu werden. Die Stabkirche gehört zu den ältesten Bauwerken Norwegens. Vermessungen und Analysen haben das Alter der Holzes auf den Zeitraum zwischen 1030 und 1130 bestimmen können. Dokumentiert ist die Missionierung in dieser Gegend nur ungenau. Aber laut Geschichtsschreibung war die Christianisierung der Wikinger Mitte des 12. Jahrhunderts abgeschlossen. Die wilden Wikingerhorden, die sich noch hundert Jahre zuvor kriegerisch gegen die Abschaffung von Yggdrasil und Asgard zur Wehr setzten, prügelten ihrerseits bereits im 13. Jahrhundert “Die einzig wahre Lehre von unserem Herrn” in die Köpfe ihrer baltischen Nachbarn. Die Stabkirche in Hopperstadt ist Zeuge dieser Zeit. Ganz aus schwarzem Holz steht sie auf einer Anhöhe und aus dem umlaufenden Säulengang hat man ein gute Sicht auf den Ort, die Bucht und die umliegenden Berge. Keine Fensterscheiben, keine Heizung schützte die Mönche vor dem grimmigen Frost, der hier acht Monate herrschte. Lediglich Kerzen und eine dicke Schicht Kleidung konnte die Männer halbwegs wärmen. Im Innern herrscht Dunkelheit, denn die Fenster sind nicht sehr groß und das Holz ist außen, wie innen schwarz geteert. Die ganze Kirche thront auf einem Steinsockel. So kann keine Feuchtigkeit in das Holz kriechen, ein Grund, warum der Bau schon so lange steht. Lange war es üblich, die Toten unter dem Kirchenboden zu beerdigen. Erst im 19. Jahrhundert wurde es verboten, schon deshalb, weil die Kirchenbesucher irgendwann den Geruch nicht mehr ertragen konnten. Die erhaltenen Grabstellen im Kirchhof gehen bis auf das Jahr 1870 zurück. Wahrscheinlich hat man erst zu dieser Zeit begonnen, die Toten außen zu beerdigen. Die spitze Dachkonstruktion der Kirche erinnert an ein umgedrehtes Schiff, ein Tribut an das Volk der Seefahrer, dass das Land besiedelte. Bis in die Gegenwart werden Restaurationsarbeiten an der Kirche vollführt. Schon 1880 verkaufte die Gemeinde Vik das Gebäude an den Denkmalschutz. Seitdem wurden unter anderem die Dachspitze neu gesetzt und die Außenhaut frisch geteert. Man achtete allerdings darauf spätmittelalterliche Holzschnitzereien zu erhalten. Damit sind jetzt nicht die Kunstwerke im Innern gemeint, die religiöser Natur sind, sondern die kleinen Graffiti aus der Vergangenheit, die ins Holz geritzt wurden. Meist waren das fromme Wünsche, die mit Symbolen, wie Tieren, Fischen und Booten versehen waren.
Es ist angenehm ruhig, als als meine Herzdame und ich das Gelände betreten. Wir sind neben einem weiteren Paar, die einzigen Besucher, bestaunen die Holzarbeit, versuchen uns in gelassenem Fotoshooting und sitzen schließlich auf einer Bank auf dem Friedhof, als ein Reisebus vor dem Eingang anhält. Dreißig Menschen gehobeneren Alters dringen in die Ruhe ein. Ein Reiseleiter scheucht die Besucher in die bis dahin stille Kirche. Ich höre vereinzelt einen deutschen Dialekt heraus und beschließe ganz still zu sein. Es gibt ein paar “Ahas” zu hören, vereinzeltes verhaltenes Lachen, wenn der Reiseleiter einen Witz gemacht hat und die surrenden und klickenden Geräusche hochwertiger Kameras und minderwertiger Knipsboxen. Dann strömt die Gruppe wieder raus aus der Kirche. Man trottet noch kurz über die Grabstellen. Einzelne Personen stellen sich vor die Kirche und lassen sich fotografieren. Andere versuchen sich in der Kunst der minderbemittelten Porträtfotografie, manchen auch als Selfie bekannt. Dann startet der Motor des Reisebusses, alles taucht in die gurgelnde Blechbüchse mit den Panoramascheiben und der Bus eilt zur nächsten Attraktion. Der ganze Spuk dauerte exakt 15 Minuten. Doch nun ist es wieder leise und nur der Wind rauscht in den Blättern der beeindruckenden Blutbuche, die vor der Kirche den Friedhof beschattet. Wir sind allein. Ein guter Zeitpunkt, um es mal mit einem Selfie mit Kirche im Hintergrund zu probieren.
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