Die detaillierte Wanderkarte des Südschwarzwaldes, schlägt mir einen anspruchsvollen Weg zu zwei versteckten Wasserfällen in einem Urwald vor. Der Bannwald, durch den ein gewundener Wanderweg führen soll, ist ein Bereich des Forstes, der sich durch Nichtbewirtschaftung zu einem ursprünglichen Waldgebiet zurückentwickeln soll.
Zunächst führt der Wanderweg aber über einen gemäßigten Anstieg auf einen Höhenzug mit wunderbarer Rundumaussicht. Am Kapfenberg versteckt sich eine kleine Kapelle hinter einer willkommenen Rastbank. Der Blick gleitet unverstellt über eine Weide zum immer noch verschneiten Feldberg. Rechts vom Feldberg erkennt man den Aussichtsturm „SchauinsLand“, ein Turm auf dem Hausberg von Freiburg, den man mit einer Seilbahn aus dem Jahr 1930 erreichen kann, wenn man nicht gewillt ist, auf knapp 1250 Meter Höhe hinauf zu wandern. Bewegt man den Blick noch weiter nach Westen, so kann man über die Rheinebene hinweg bis auf die Weinberge des Elsass schauen und auf die sich darüber erhebenden Berge der Vogesen, die ebenfalls noch Schneemützen tragen. Ein Milan kreist über dem Acker. Der Acker riecht frisch gedüngt. April, der Monat, in dem die Gülle an die frische Luft kommt.

Die kleine Kapelle, vor der ich sitze, wurde 1850 errichtet. Aus Dankbarkeit von einem Joseph Hummel, der drei Mal vom Schlaganfall heimgesucht wurde und den Wunsch äußerte, doch noch einmal ohne Krücken an seinen Lieblingsaussichtspunkt zu gelangen. Als ihm das tatsächlich glückte, ließ er vor Freude diese kleine Kapelle errichten. Es stehen noch einige solcher Dankbarkeitskapellen im Hochschwarzwald. Die Vogesenblickkapelle einige Kilometer nördlich zum Beispiel. Hier geht die Geschichte, dass ein junger Mann von einem nahen Hof in den Ersten Weltkrieg zog und sich in den Vogesen in einem Schützengraben verschanzte. Von seinem Kriegsschauplatz aus konnte er bei klarem Wetter die Höfe im gegenüberliegenden Schwarzwald erkennen und mit dem Fernglas sogar die Höhe in der Nähe seines Heimathofes. Wenn die Sonne in den Schwarzwald schien, spiegelten sich vereinzelt friedlich die Fenster der Häuser im deutschen Schwarzwald, während er in zerrissenen Erde des Nachbarlandes auf die nächsten Einschüsse wartete. Mit dem Heimatland vor Augen und der Gewissheit des nahen Todes, schwor der junge Mann, dass er, sollte er den Krieg überleben und wieder heimkehren, an dieser Höhe eine Kapelle errichten würde. Er gehörte zu den wenigen jungen Männern, die aus den Grabenkämpfen unverletzt zurückkehrten und sein Versprechen wahr machen konnte.

Man muss sich mit einer kleinen Anstrengung von dieser schönen Aussicht am Kapfenberg lösen, um sein Wanderziel wieder in den Fokus zu rücken. Einige hundert Meter geht es durch aufgeräumten Forst und an Feldrainen vorbei, begleitet von Drosselgeträller, Falkengeschrei und Amselgezwitscher. Dann weist ein Wegweiser den Wanderer auf einen schmalen Pfad in den Wald hinein. Zum Zweribachbachwasserfall geht es zunächst steil bergab. Der Weg ist schmal, sehr schmal und rutschig. Trockenes Buchenlaub liegt am Boden und man hat den Eindruck auf übereinandergelegten Seidentüchern zu schreiten.

Die Abhänge neben dem Weg fallen jäh ab. Die Vorstellung abzurutschen, ist alles andere als angenehm. Der Kobolz, den man schösse, würde nicht so bald enden. Gefallene Bäume, die man überklettern muss, liegen über dem Wanderweg, manchmal wird der Weg auch von einem rutschigen Felsen durchbrochen. Dann sind Klettergeschick und Gleichgewichtssinn gleichermaßen gefragt.Wir kommen nur langsam voran, doch das Rauschen des Wasserfalles dringt durch den Wald und kommt deutlich näher. Schließlich mündet der Weg an einer Eisenbrücke. Der Wasserfall stürzt sich vor uns in die Tiefe, unter uns hindurch und dann weiter hinab ins Tal. Die Luft ist feucht und es spritzt in alle Richtungen. Vierzig Meter fällt das Wasser hier herab. Laut rauscht der Zweribachfall durch den Wald. Ein imposantes Schauspiel, jetzt im Frühjahr, wo die Wassermaßen so gewaltig sind.


Im Winter lockt dieser Wasserfall in besonders kalten Jahren allerhand Eiswasserfallkletterer an, eine Sportart, der ich so gar nichts abgewinnen kann. Weiter durch den Wald gelangt man über einen steil aufwärts führenden Pfad zu den ebenfalls imposanten Hirschbachwasserfällen. Für ein kurzes Stück, wird aus dem Wanderweg ein Kletterstieg, dann geht es gemäßigt bergauf, bis wir schließlich das Gebiet des Urwaldes verlassen und wieder auf Forstwegen unterwegs sind.
Meine Wanderkarte bietet nun einige Alternativen. Wir wollen bis nach St. Märgen. Ich will gerade die Karte wieder zu klappen, als mein Blick entsetzt auf der Bezeichnung eines Hofes in der Nähe des Kandelberges fällt. Dort befindet sich laut Karte der Nazihof und daneben ein Haltepunkt namens Nazihäusle. Meine späteren Erkundigungen ergeben, dass hier nicht der Volkssturm sein Ferienlager hat, sondern, dass der Begriff Nazi im Alemannischen, die „Verniedlichung“ des Namens Ignatz ist. Ignatz’ Hof wurde vor über hundert Jahren in Nazihof umgangsversprachlicht. „Das weiß man doch in der Gegend, dass das altalemanische Ausdrucksweise ist“, lese ich auf einer Website die Aussage eines örtlichen Sprachexperten. Nun frage ich mich, wie viele Leute heute des Alemannischen mächtig sind. Touristen, die hier entlang kommen sind das sicher nicht. Es ist seltsam, mit welcher Selbstverständlichkeit hier an einer Bezeichnung festgehalten wird, die nun wirklich deutlich gesellschaftlich geächtet ist. Und das in einer Zeit, wo anderenorts so sehr auf politisch korrekte Namensgebung wert gelegt wird. In Berlin wird gerade darüber diskutiert, ob die Nachtigalstraße im Wedding weiter so heißen darf. Benannt wurde sie einst nach einem Afrikaforscher, der später für die Kolonialverwaltung tätig war. Wie auch immer er geschichtlich einzuordnen ist, die wenigsten Straßenanwohner im Viertel kennen die Herkunft des Namens. Man könnte die Straße umwidmen und nach dem sattsam bekannten Vogel benennen. Man kann aber auch politisch korrekt einen anderen Namen suchen. Da finden sich sicher lang anhaltende kostenintensive Streitpunkte, bei denen man sich gegenseitig wahlweise auf den Schlips oder ein anderes Kleidungstück seiner Wahl tritt. Das ist Grundlage einer empörten Diskussion: Irgendjemand ist am Ende immer beleidigt. Währenddessen hält hier im Südschwarzwald der Bus regelmäßig am Haltepunkt Nazihäusle. Manch Reisender wundert sich und pubertierende Schüler lachen sich unter Zuhilfenahme politisch unkorrekter Witze scheckig und vielleicht auch ein bisschen braun.

St.Märgen taucht hinter einem kleinen Hügel auf. Auf einem Sportplatz trainieren jene oder ähnliche pubertierende Schüler albern gackernd Torschüsse aus drei Metern Entfernung. Jeder Zweite trifft. Ein Paar mit einem Hund, der heute aus der Mode gekommenen Sorte Spitz, putzt die Wanderschuhe an einem elektrisch betriebenen Putzautomaten ab. Der Hund wartet geduldig, bis er dran ist.
Ein kleiner Hunger macht sich bemerkbar. St.Märgen besitzt ein paar Restaurants und Gasthöfe. Aber nirgends befindet sich jemand am Tisch. Es ist kurz nach der Mittagszeit, die meisten Läden sind entweder in der Pause. Vielleicht ist heute auch margentafarbener Mittwoch und es wird nicht gekocht.
Ein Landcafé hat offen. Vielleicht tut es in der herrschenden Not auch ein Kuchen? Wir treten ein und werden von einem Schild überrascht, das uns für Kartoffelsuppe erwärmen will.
“Wir nehmen dann zweimal Kartoffelsuppe”.
“Die ist heute mit Kürbis”.
“Dann zweimal Kürbiskartoffelsuppe”.
“Gehen sie schon mal rein. Heut gibts sogar Kultur.”
Wir betreten den hellen Raum. Ein Panoramafenster mit Balkon wirbt für einen Blick ins Tal. Aber der Wind ist dort etwas frisch. Wir nehmen an eine Wand Platz, die mit Malereien behängt ist. Vor dem Panoramafenster sitzt ein Ortsmusiker mit seinem Akkordeon, der Volksweisen aus der Region singt. Das tut er mit der Gelassenheit eines Handwerkers, der weiß, dass er auf jeden Fall bezahlt wird.
Er versucht es mit dem Klassiker: “Das Städtchen Kufstein”. Ein älteres Damenduo schunkelt mit.
Ich schaufele abwesend meine Suppe in mich hinein und betrachte mir das Bild, das neben unserem Tisch hängt und von einem Insassen des Ortes hergestellt wurde. Ein paar graue Flecken und etwas wage bräunlich Schimmerndes auf weißem Hintergrund ist dargestellt. Es sieht so aus, als hätte jemand mit einem großen Stück Schwarzwälder Kirschtorte im Mund eine heftige Niesattacke gehabt. “Tanz des Lebens” heißt das Ergebnis und ist für 800 Euro zu haben.
Ein weiteres Lied stimmt der Schunkelbarde nun an und es wird von vier Personen mitgesungen. Es muss sich dabei um einen Gemeindehit handeln, denn die Fangruppe, die mittlerweile auf vier Personen angeschwollen ist, singt mit:
“Schenk Deiner Frau, einen Strauß Rosen.
So ab und zu.
Sie wirds verstehen.
Du wirst schon sehn.
Wenn du heimkommst, von der Arbeit
Ist sie schon da
Und fragt dich wie’s dir geht.
Sobald, das Essen auf dem Tisch steht.
Schenk Deiner Frau …”
Die Miene des längst berenteten Musikers bleibt ausdruckslos bis starr, der Rhythmus gerade so im Gleichtakt, dass man seine Spielweise zwar als flüssig, wenn auch als zähflüssig betrachten kann. Der Gesang bleibt lustlos.
Das Paar am Nachbartisch moderiert versonnen: “Nu sache noch eina, desch Volkschmusik net schön ischt.”
Wir haben schnell aufgegessen, bedanken uns auf die Frage “War’s Recht” mit einem “War lecker und nett” bei der Wirtin der Schrammelbar und machen uns schleunigst wieder auf den Weg. Das letzte Lied weht noch lange im Gehörgang nach.