Die erste wirkliche Frühlingswanderung des Jahres zu unternehmen, ist wie ein gemeinschaftliches Aufatmen von Natur und eigenem Körper. »Hey. Es geht wieder los« grüßen sich Wanderer und Landschaft. Vorgestern noch kratzte ich mit Stiefeln an den Füßen und mit einem Wintermantel den bibbernden Körper vor dem morgendlichen Temperaturen schützend, Eis von den Autoscheiben. Ostern ist gerade vorüber und einigen Orts lag frischer gefallener Neuschnee auf den versteckten Ostereiern.
Jetzt, Anfang der zweiten Aprilwoche haben meine Herzdame und ich uns auf einem Bergbauernhof im Schwarzwald eingemietet, genießen eine reichlich vorwitzige Sonne, die auf eine Wiese voller Osterglocken scheint, Osterglocken, die gelb und anziehend leuchten und von den ersten herumsummenden Bienen munter gevögelt werden. Zwei Katzen schleichen durchs hohe Gras und jagen Insekten. Von der Terrasse schauen wir ins Tal und hinüber zum Feldberg, auf dem sich der Schnee immer noch weiß und strahlend vor dem blauen Himmel abhebt.
Beste Gelegenheit die Wanderschuhe anzuziehen und in den Wald zu gehen. Die ersten Bäume treiben aus. Andere liegen gebündelt und entastet am Wegesrand. So tragisch es für den einzelnen gefällten Baum auch ist, im Wald riecht frisch geschlachtetes Holz einfach toll. Hummeln brummeln. Es gibt schon reichlich Vögel im Wald, die zwitschern und die neue Saison begrüßen. Irgendwie ist auf den ersten Blick alles, wie es sein soll. Die Landschaft im Südschwarzwald ist lieblich, grüne Felder, blauer Himmel, strahlender Sonnenschein.

Alles ist so idyllisch wie ein Bildschirmschoner von Windows. Nur zuweilen sind die Anstiege im Wald etwas anspruchsvoll.
Kirchenglocken läuten vom Tal oder aus dem Nachbardorf herüber. Wanderer Grüßen auf dem Weg zurück, zumindest die, die älter als achtzehn sind. Sonntag nach Ostern im Schwarzwald.
Die Idylle wird kurzzeitig gestört, als ich im Wald ein Schild an einem Baum bemerke. Eine Suchmeldung, ein Zeugnis eines schmerzlichen Verlustes. “Modelsegelflugzeug entflogen. Bei Fund bitte melden unter … .”

Hinter einem grünen hügeligen Feld tauchen die Kirchtürme des Ortes St. Peter auf. Blasmusik schallt durch die Landschaft. Schon von Weitem können wir auf dem Klosterhof eine Menschenmenge ausmachen, die offenbar etwas zu feiern hat.
Heute ist Erstkommunion in St.Peter. In der katholischen Kirche vor allem für die heranwachsenden Kinder ein wichtiger Tag. Fein geschmückt ist der Eingang zur Klosterkirche. Die Betroffenen, also die Kinder und ihre Angehörigen haben sich in ihre besten traditionellen Schwarzwaldkostüme gekleidet. Röcke, Schürzen, Westen, schwarze Anzüge, Hauben bei den Großmüttern, Hüte bei den Müttern. Fotos werden vor dem Kircheingang geschossen, kleinere Getränke kursieren bereits.

Dazu spielt eine Blasmusikkapelle. Ein festlicher Akt, der mehrere Generationen in der Gemeinde und in der Tradition verbindet. Durch einen Torbogen verlassen wir den Klosterhof und finden uns auf einem kleinen Platz wieder, den drei Restaurants und ein Souvenirladen säumen. In der Mitte steht ein großer Brunnen.
Im Souvenirladen finde ich eine detailverliebte Wanderkarte der Region. Ich freue mich drüber. Irgendwie kann ich einer guten Karte immer noch mehr Vertrauen entgegenbringen, als meinem Wandernavi, das gern mal den Satelliten verliert und mich ratlos im Wald stehen lässt. Da der Verkäufer meinen Fünfzig Euro Schein etwas skeptisch beäugt, wühle ich noch kurz in seinem kleinen antiquarischen Bücherkörbchen und werde fündig. Wir unterhalten uns noch kurz über das Wetter. Dann höre ich meinen Magen knurren und trete wieder vor die Tür.
Vor dem Hotelrestaurant sind auf einer Terrasse Stühle und Tische aufgestellt. Fast alle stehen in der Sonne, die hier mittags bereits reichlich Kraft besitzt. An der Fensterfront liegt eine Bankreihe bereits im Schatten. Von dort haben wir einen guten Blick auf das Treiben auf dem Platz und an den Tischen.
Eine trachtengeschmückte Großmutter nimmt unsere Bestellung auf. Ein Bier, ein Saft. “Gibt nur Kuchen. Keine warme Küche,” sagt sie.
“Warum”, wage ich zu fragen.
“Na weil heut Weißer Sonntag ist”, erwidert sie und geht von der Selbstverständlichkeit dieser Aussage überzeugt wieder in die Küche.
Ich nehme dann ein Stück Schwarzwälderkirschtorte zu meinem Weißbier. Eine durchaus akzeptable Kombination, wenn man ein bisschen Hunger und noch mehr Durst hat und der Rückweg über einen Kamm in ein Tal und dann wieder auf einen Berg hinauf führen wird.
Vor dem Restaurant treffen immer mehr Sonntagsausflügler ein. Vor allem Radfahrer. Der Schwarzwald ist gerade von Freiburg aus ein Mekka der beherzten Rennradler und Mountainbiker, aber inzwischen ebenso der motorisierten Zweiradbesitzer höheren Alters. Ob E-Bike oder Motorrad. Hier in St.Peter macht manch motorisierter Hüftschaden Mittagspause. Am gegenüberliegenden Tisch platziert ein älteres Ledermännchen den Helm neben seinem Stuhl, fährt sich pflegend durch das weiße Spitzbärtchen und richtet die spiegelnde Sonnebrille auf sein ebenfalls weißhaariges Weibchen. Zwei weitere Motorradrecken mit gepflegten Bierbäuchen, steuern schweren Schrittes auf den gleichen Tisch zu und setzen sich dazu.
Eine junge Familie sucht Platz. Ein Kindersitz in einer Hand, schiebt der Vater seinen Sohn mit dem rote Porsche T-Shirt durch die Reihen. Das Thor Steinar Shirt des Vaters brüllt um Aufmerksamkeit, ebenso, wie seine durchtätowierte Frau. Ein ganz gewöhnlicher Sonntagsausflug mit Familie. Ein Trio lehnt seine Rennräder an die Blumenrabatte. Durchtrainiert und abgehechelt schwitzen sie die Kissen auf den Sessel mit ihren Funktionshosen nass. Die Frau in dem Trio ist drahtig und dürr. Ihre rote Trikot- und Radhosenkombination, die normalerweise eng anliegen sollte, schlabbert über ihrem knochigen Körper, wie lässig fallender Fahnenstoff. Ich steche beherzt meine Gabel in die letzte Ecke meiner Schwarzwälder Kirschtorte. Dann greife ich zu meinem Rucksack, meinem Reisegepäck, das nur das Nötigste enthält: Eine Flasche Wasser, etwas weich gewordene Schokolade, Fotoapparat, die neue Wanderkarte und eine vierhundertseitige Biografie von Catarina Valente. Dann kann es ja weitergehen.